Gleichnisse und Spiritualität
Gleichnisse und Spiritualität
Arbeiter im Weinberg
Arbeiter im Weinberg

PRACTICE OF THE PRESENCE OF
GOD THE BEST RULE OF A HOLY LIFE
Conversations and Letters by Brother Lawrence

Tageslauf, Jahreslauf und den Lauf der Seele, die sich öffnet für die barmherzige Liebe Gottes, beschreibt Tersteegen in seinen Liedern.

Beispiele: Weihnachten,  Morgenlied, Gottes Gegenwart, Ermunterung der Pilger,

Gottes Güte. 

 

dieser Link führt zu einem der bekanntesten

Lieder " Ich bete an die Macht der Liebe"

https://www.youtube.com/watch?v=Ol98zhJXa9o

Wie wir lernen, nicht aus dem falschen, sondern aus dem wahren Selbst zu leben, zeigt der Psychiater Dr. Checkley am Beispiel von Bruder Lorenz.

Das Tersteegenhaus in Mülheim, war die ehemalige Wirkungsstätte von Gerhard Tersteegen 

http://heimatmuseum-tersteegenhaus.de/

 Aus Salzkorn, Heft 3/2004. hg. von OJC Offensive Junger Christen
"
Bruder Lorenz - Leben aus Seiner Gegenwart"

Wie man von der Stimme der Selbstanklage frei wird (Dr. Stuart Checkley)

 

Der Stress am Arbeitsplatz bietet eine hervorragende Gelegenheit, sich in der Vergegenwärtigung Gottes zu üben – meint Stuart Checkley, Psychiater und Hochschullehrer aus London.  

In jedem von uns stecke eine Portion Selbstbesessenheit und Narzissmus, und in Besprechungen habe man oft das Gefühl, als ob alle Anwesenden vom „verletzten Kind“ und falschen Selbst in sich dominiert würden. Wie wir lernen, nicht aus dem falschen, sondern aus dem wahren Selbst zu leben, zeigt er am Beispiel von Bruder Lorenz.  Dr. Checkley und seine Frau Marilyn gehören seit 10 Jahren zum überkonfessionellen Seelsorgeteam von Leanne Payne.

 

"Es macht einen großen Unterschied, ob wir aus dem eigenen Selbst oder aus der Gegenwart Gottes leben. Das sind einander entgegen gesetzte Lebenshaltungen, die wir nicht gleichzeitig einnehmen können. Wir können nicht unser Spiegelbild betrachten – ob mit Stolz oder Selbsthass – und zugleich auf Gott blicken.

In der Gegenwart Gottes zu sein bedeutet, dass unser gesamtes Leben, auch der Alltag, vom Bewusstsein seiner Nähe durchdrungen ist. Ganz so, als würden wir unsere Tätigkeiten in der Gegenwart eines guten Freundes oder eines geliebten Menschen verrichten. Nicht in seiner Gegenwart zu leben ist, als ob man zwar mit dem wunderbarsten aller Menschen verheiratet wäre, aber sich die meiste Zeit gar nicht bewusst wäre, dass es ihn gibt. Als verheirateter Mann weiß ich, dass so etwas durchaus vorkommen kann! Um bei dem Beispiel der Ehe zu bleiben: Wie das Bild eines geliebten Menschen, das wir bei uns tragen und das uns auch in seiner Abwesenheit an ihn erinnert, unsere Zuneigung wachrufen kann und uns in mancher Versuchung leichter widerstehen lässt, genau so können wir Gott leichter die Treue halten, wenn wir in seiner Gegenwart bleiben.
Die Voraussetzung für ein Leben in Gottes Gegenwart ist seine große Liebe zu uns. Aus dem bloßen Aufblicken zu ihm und dem Vertrauen auf ihn fließt unermesslicher Segen. Jesus sagt in seiner Botschaft an die Gemeinde in Laodicea: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und öffnet, werde ich bei ihm einkehren und mit ihm speisen und er mit mir.“ (Off 3,20) Als Christen haben wir die Tür unseres innersten Herzens geöffnet und wissen, dass Jesus eingetreten ist. Das ist der Beginn unseres Weges mit ihm. Bruder Lorenz drückte es so aus: „Die Seele erziehen bedeutet, sie die Freude an seiner göttlichen Gesellschaft finden lassen.“ Seine Lebensgeschichte ist reich an Beispielen für den Segen, der diesem einfachen Prinzip erwächst.

Ein zerrissener Mensch
Das ganze Bemühen von Bruder Lorenz zielte darauf, Gott in allem, was er tat, zu gefallen und sich unablässig seiner Gegenwart bewusst zu sein. Er verrichtete die anfallenden Dienste im Kloster gewissenhaft als Zeichen seiner Liebe und Hingabe. Einige seiner Brieffragmente, Schriften und Gespräche sind erhalten geblieben. Aus ihnen läßt sich seine vierzig Jahre währende geistliche Wanderschaft in der Gegenwart Gottes ein Stück weit rekonstruieren.
Aus Liebe zu Gott war er – wohl im Alter von vierzig Jahren – in das Kloster eingetreten. Er war fest entschlossen, seinem Selbst zu entsagen und sein Leben ganz „Gottes Gegenwart zu widmen und nichts zu tun und nichts zu sagen und nichts zu denken, was ihm missfallen könnte, mit nichts anderem im Sinn als die reine Liebe zu ihm, von der er unendlich mehr verdient.“ Das hieß für Bruder Lorenz, „die Eigenliebe zu tilgen“.

Gottes Gegenwart erspüren wir wie die Gegenwart eines Freundes oder eines geliebten Menschen – durch die Liebe. „Das Leben in Gottes Gegenwart“, so Bruder Lorenz, „muss aus dem Herzen kommen, aus der Liebe und nicht vom Verstand und von der Sprache her. Das Denken vermag in Gottes Angelegenheiten nicht viel; die Liebe vermag alles.“
Aus Berichten der Zeitgenossen erfahren wir, wie sehr er zunächst unter seinem Selbsthass und seiner Selbstbezogenheit gelitten hat. „Als er um Aufnahme ins Kloster bat, dachte er, man würde ihn für seine Unbeholfenheit und seine Vergehen büßen lassen.“ Er war wie mancher moderne Christ, der eine christliche Konferenz besucht und erwartet, dass Gott ihn dort für seine Unzulänglichkeit und Bedürftigkeit bestraft. Auch Bruder Lorenz verabscheute sich selbst und glaubte, Gott würde ihn ebenfalls verabscheuen. In den ersten zehn Klosterjahren „kreisten meine Gedanken im Gebet um Tod, Gericht, Hölle, Paradies und um meine Sünde. Ich habe in diesen Jahren viel gelitten. Ich befürchtete, Gott nicht so anzugehören, wie ich es gerne wollte, ich sah nur meine Sünden, und die Güte Gottes erschien mir als Quelle meines Leidens.“
 Zuweilen hatte er Anwandlungen von Stolz: „Es war schmerzhaft zu erkennen, dass mein Problem vor allem von der Einbildung rührte, ich wäre bereits an einem Punkt angelangt, den andere nur unter großer Mühe erreichen.“ Dann wieder plagte ihn der Selbsthass: „Ich meinte, meine Selbstvorwürfe wären vergeblich und es gäbe für mich keine Erlösung.“ Ob in Hochmut oder Selbstverachtung: sein Ringen blieb immer selbstbezogen.

Ausstieg aus der Selbstumkreisung
Nach einem Gespräch mit ihm schrieb sein Biograph über das negative Selbstbild von Bruder Lorenz: „‚Grübeln macht alles zunichte. Das ist der Beginn allen Übels. Wir müssen darauf bedacht sein, unsere Gedanken loszulassen, wenn sie weder unser Werk noch unsere Erlösung fördern.‘ Er verbrachte einen großen Teil seiner Gebetszeit mit dieser Vorarbeit, seine Gedanken beiseite zu schieben, um dann wieder in sie zu versinken.“

Er hatte Strafe für seine Sünden erwartet und war erstaunt, als er merkte, dass Gott ihm nicht nur seine Sünden zeigte, sondern immer mehr von seiner Liebe zu ihm. Einer seiner ersten Übungen, die er stetig wiederholte, bestand darin, sich von seinen Selbstvorwürfen zu lösen und sich Gott zuzuwenden. Nach zehn Jahren des Übens erfuhr er eine merkliche Veränderung.
„Ich fand mich plötzlich verändert, und meine vormals verzweifelte Seele empfand einen tiefen inneren Frieden, als wäre sie ganz bei sich und an einem Ort der Ruhe.“

Von nun an berichtet er wenig von Gedanken, die um ihn selbst kreisen – und so gut wie gar nichts von Selbsthass. Die Gedanken kehren noch wieder, aber sie nehmen seine Aufmerksamkeit nicht mehr in Beschlag. So wie er vormals in seinem Selbsthass wie außerhalb seiner selbst lebte, sprach er jetzt davon, in seinem wahren Selbst zu ruhen und mit kindlichem Glauben auf Gott zu schauen. Seine Seele war, trotz ihrer natürlichen Neigung, von der Gegenwart Gottes erfüllt – selbst in den langen Jahren der Küchenarbeit. Die tiefe Befriedigung, die ihm die Gegenwart Gottes schenkte, beschrieb er anschaulich als vollkommener als die Zufriedenheit des Säuglings an der Mutterbrust:
„Meine gewöhnlichste Haltung ist die schlichte Aufmerksamkeit, ein mir zur Gewohnheit gewordenes Aufschauen zu Gott. Ihm fühle ich mich mit mehr Freude und Dankbarkeit verbunden als ein Säugling an der Brust seiner Amme. Voller Freude beschreibe ich diesen Zustand unaussprechlichen Glücks – der Ausdruck sei mir erlaubt – als die nährende Brust Gottes ... kein Schmerz, keine Zweifel über meinen Stand quälen mich.“

Dieses kindliche Gottvertrauen beschreibt die Bibel mit ähnlichen Bildern in Jesaja 31,15; 66,12-13 und in Hosea 11,4. Die Seele ist gestillt, zufrieden und zuversichtlich in Gott. Ein Zustand, der zu den frühesten Erfahrungen des Kindes nach und sogar vor der Geburt gehört und der zugleich in die Zukunft weist, auf den Moment des Todes und auf die Verheißung der himmlischen Gemeinschaft.

Von der Wissenschaft bestätigt
Interessanterweise hat die Psychoanalyse Jahrhunderte später die Gründe für Narzissmus in der Entbehrung der Mutterbrust im frühesten Kindesalter, bzw. in einer späteren regressiven Sehnsucht nach einem Erlebnis des „Gestilltwerdens“ gesehen. Freud umschreibt mit dem Terminus „primärer Narzissmus“ die ursprüngliche Bindung des Kleinkindes an die Mutter. Der „sekundäre Narzissmus“ wäre dann die Regression in einen solchen Zustand im späteren Leben, ausgelöst durch einen schweren Verlust oder sogar körperliche Erkrankung. Spätere Psychoanalytiker unterscheiden nicht mehr so streng zwischen primärem und sekundärem Narzissmus, sondern bezeichnen mit dem Begriff das Wohlgefühl der Einheit mit der Mutter, das sich im späteren Leben in die Fähigkeit verwandeln muss, gesunde zwischenmenschliche Bindungen einzugehen.

Was die Theorie auch immer sagt, Bruder Lorenz hat durch die Erfahrung der Liebe Gottes, die er mit dem Bild von der „stillenden Brust Gottes“ zu umschreiben versucht, eine grundlegende Veränderung seines inneren Lebens erfahren. Seine Selbstbezogenheit spielte kaum noch eine Rolle in seinen Schriften.

Berufen  zur Anbetung
So haben denn auch seine nie ganz verschwundenen Befürchtungen um die Zukunft seiner Seele mit der Zeit ihre Bedeutung in seinem Leben verloren. Er begnügte sich damit, seine Zukunft ganz in Gottes Hände zu legen. Als man ihn am Sterbebett fragte, was ihn beschäftige, antwortete er: „Ich tue, was ich in aller Ewigkeit tun werde: Ich segne Gott, preise ihn, bete ihn an und liebe ihn von ganzem Herzen. Das ist unsere einzige Berufung, Brüder, Gott anzubeten, ihn zu lieben, ohne uns um irgendetwas Sorgen zu machen.“ Er blieb sich seiner Sünden sehr wohl bewusst und gegen Ende seines Lebens erlitt er sogar starke körperliche Schmerzen; seine Aufmerksamkeit aber war nicht auf sich selbst gerichtet. Seine Besucher erkannten nicht, dass er Schmerzen hatte, es sei denn, sie fragten ihn. Er lebte in der Gegenwart Gottes, blickte zu ihm auf und war bereit, sein Leiden zu Gottes Ehre zu tragen. Voller Zufriedenheit konnte er alle seine natürlichen Sorgen der Liebe Gottes anvertrauen.
So überrascht es nicht, dass Bruder Lorenz sich schließlich annehmen konnte, wie er war.
„Wenn ich einer Sünde überführt werde, leugne ich sie nicht, sondern sage: So steht es mit mir. Das ist alles, was ich vermag...
Gelingt es mir, standhaft zu bleiben, danke ich Gott und bekenne, dass es von ihm kommt.“

Als man ihn fragte, wo er seinen Platz in der Ewigkeit sehe, gab er zur Antwort, er überließe es getrost Gott, darüber zu befinden. Er selbst nutze lieber die verbleibende Zeit, um Gott so sehr zu lieben, wie er könne. Das war kein Trick, um seine Selbstzweifel in Schach zu halten, sondern der Ausdruck einer tiefen, liebenden Zuversicht, die durch Gottes Liebe in ihm gewachsen war.

Jenseits der Kränkbarkeit
Jeder, der in einer narzisstischen Welt lebt, dessen Zentrum er selbst bildet, wird enorme Schwierigkeiten haben, gut mit Kritik – von innen oder von außen – umzugehen. Hat man, wie etwa Nebukadnezar, ein übersteigertes Selbstbild, wird jede Kritik Wut auslösen. Wenn man wie Bruder Lorenz eine schlechte Meinung von sich hat, wird sich die Wut nach innen richten – so war es ihm in den ersten zehn Jahren seines Klosterlebens ergangen.
Mit wachsender Empfindsamkeit für Gottes liebende Gegenwart in uns wächst auch die Gelassenheit gegenüber Kritik. Wenn in der Klostergemeinschaft eine Entscheidung gefällt wurde, die Bruder Lorenz falsch fand, verwunderte er seine Brüder mit seiner Erwiderung, dass die Verantwortlichen die Entscheidung sicherlich mit gutem Grund gefällt hätten. Mehr hatte er der Auseinandersetzung nicht hinzuzufügen, obwohl sich ihm so manche Gelegenheit geboten hätte. „Ich bin in Gottes Hand, und er meint es gut mit mir. Was kümmert’s mich, was Menschen mir tun.“

Die christliche Tugend der Demut besteht darin, dass unser Bewusstsein sich mehr auf Gott richtet als auf das eigene Selbst. „Wie kannst du demütig sein, wenn du ständig auf dich selbst achtest? Wärst du wirklich demütig, würdest du dich gar nicht um dich scheren. Warum solltest du auch? Der Demütige vermag Großes zu tun, weil er sich nicht um so Unwesentliches kümmert, wie seinen eigenen Vorteil und seine eigene Ehre, er muss seine Kraft nicht darauf verschwenden, sie zu verteidigen.“ (Thomas Merton)

Geborgen in Leid und Tod
Leiden und Tod werden in unserer narzisstischen Kultur als Kränkung empfunden.
Bruder Lorenz ertrug die Schmerzen seiner unheilbaren Krankheit mit der gleichen Haltung, mit der er vierzehn Jahre lang seine Küchenarbeit bejahte, obwohl sie nicht seiner natürlichen Neigung entsprach. Beides nahm er als von Gott gegeben an und vertraute darauf, dass die ihm daraus zufließende Kraft noch mehr von der Liebe Gottes offenbarte. Einen knappen Monat vor seinem Tod schrieb er in einem Brief an die „Ehrwürdige Mutter N.“, die ebenfalls an einer schmerzvollen und wohl chronischen Krankheit litt:
„Ich bin dem Tode sehr nah, und war doch niemals glücklicher als eben jetzt. Nie habe ich um Linderung gebeten, sondern um Kraft, damit ich das Leiden mutig, demütig und liebevoll tragen kann. Nur Mut, teuerste Mutter. Süß ist es, mit Gott zu leiden, und sei das Leiden noch so schwer. Nimm es mit Liebe hin. Mit ihm zu leiden und zu leben ist das Paradies.“

Mit zunehmender Todesnähe strahlen durch seine Briefe die drei Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, die nur Gott verleihen kann, in immer stärkerer Leuchtkraft. Durch sein Bleiben in Gottes Gegenwart haben sich diese Gaben in ihm entfaltet. Größer könnte der Unterschied zwischen dem Tod eines Christen und dem Tod des Narziss gar nicht sein: Der in sich selbst versunkene Narziss kennt weder Glauben, noch Hoffnung oder wahre Liebe. Der reuige Verbrecher aber, der auf den Herrn blickt, besitzt alle drei. Er fleht: „Gedenke meiner, wenn Du eingehst in Dein Königreich!“ – und er wird erhört.

Was verhindert die Gegenwart Gottes?
Bruder Lorenz verbrachte vierzig Jahre damit, sich Gott zu vergegenwärtigen, indem er täglich in den Psalmen und den Evangelien las. Verständlich also, dass seine Erfahrung der Gottesnähe dem, was die Bibel darüber sagt, so nahe kommt. Sein Ausspruch, „Der Gott der Liebe kehrt in die Mitte der Seele ein, um dort zu ruhen und zu bleiben“, klingt wie ein Kommentar zu Psalm 131. Ebenso kann seine Aussage „Ich lebe in einer solchen Stille, dass ich mich vor niemandem fürchte“, als Auslegung von Psalm 46 gelesen werden: „Sei stille und erkenne, dass ich Gott bin.“ Die Berichte von Bruder Lorenz über das Glück, das er – selbst unter Schmerzen – in der Gegenwart Gottes empfand, ähneln der Freude, die uns aus den Psalmen und aus den Berichten über die Verfolgung der ersten Christen vertraut ist.

Dennoch fiel den meisten schwer, zu verstehen, was er weitergab – geschweige denn, es zu befolgen: „Ich bin erstaunt darüber, dass du mir nicht sagst, wie du über das Buch denkst, das ich dir zugeschickt habe und das du sicher erhalten hast. Übe dich zielstrebig darin in deinen verbleibenden Jahren. Lieber spät als nie. Es ist mir ein Rätsel, wie Frauen in religiösen Gemeinschaften leben können, ohne sich in der Vergegenwärtigung Gottes zu üben.“

Wir tun uns heute noch schwerer damit. Bruder Lorenz hatte betont, dass wir nur durch Liebe und Vertrauen in die Gegenwart Gottes gelangen, niemals durch analytisches Denken. In der Zeit der Aufklärung war es notwendig, das ausdrücklich zu betonen – heute scheint es mir noch wichtiger. Christen unserer Zeit sind gewohnt, ihren analytischen Verstand zu benutzen, sind aber im Gebrauch ihrer intuitiven Intelligenz ungeübt. Die Bibel verlangt beides in gleichem Maße. Unser analytischer Verstand läuft Gefahr, unser Denken von Gott weg auf uns selbst zu lenken. Er lockt uns in die Welt der Selbstbezogenheit, die uns den Sinn für die Gegenwart Gottes verstellt oder zu einer abstrakten Idee reduziert.

Herausforderung für „Kopfmenschen“
Dieses Selbstverständnis schneidet uns von einem großen Bereich unseres Gefühlslebens ab und wir sind wie der Mensch, der kaum die Gegenwart seiner Ehefrau wahrnimmt! Unsere ungestillten emotionalen Bedürfnisse aus der Vergangenheit überwuchern den „alten Menschen“, der getrennt ist von der vergebenden, heilenden Gegenwart Gottes. Jeder Gefühlsbereich, der sich Gottes Einfluss entzieht, wird zwangsläufig von den Bedürfnissen des „alten Menschen“ beherrscht. „So diene ich nun mit dem Gemüte dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch  dem Gesetz der Sünde.“ (Römer 7,25) Daher sind gerade diejenigen, denen es besonders schwer fällt, aus der Gegenwart Gottes zu leben, am meisten darauf angewiesen.

Wenn unser Verstand nun einmal analytisch geprägt ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als von dort auszugehen. Zunächst werden wir uns im Glauben der Tatsache bewusst, dass wir in Gottes Gegenwart leben. Sinn der Übung ist es aber, von hier aus zu einem Wissen zu gelangen, das aus dem Herzen kommt: das Wissen um Gottes Liebe in uns. Wie bereits beschrieben, ist es hilfreich, sich die Anwesenheit Gottes immer wieder in Erinnerung zu rufen – zu verschiedenen Zeiten während des Tages. Es kann ebenfalls hilfreich sein, durch andere Übungen die lähmende Gewohnheit abzustreifen, aus dem analytischen Verstand heraus zu leben. Die Übung des hörenden Gebets leitet uns an, durch das Lesen der heiligen Schrift auf die Stimme Gottes zu hören. Die Natur bietet einen anderen hervorragenden Einstieg. Der Raum, in dem meine Frau und ich morgens beten, schaut nach Osten, so dass wir sehen, wie das frühe Sonnenlicht durch die Silberbirke scheint, die Tau- oder Regentropfen erleuchtet und die Vögel, die im Baum Nahrung suchen, wärmt. Das Fenster unseres Arbeitszimmers blickt in den Sonnenuntergang. Bei solchen Abbildern seiner Herrlichkeit fällt es leicht, sich der Gegenwart Gottes bewusst zu werden. Christliche Symbole, Mythen und die Sakramente vergegenwärtigen ihn uns ebenso.*
Die Seele aus dem Zustand ihrer Gefangenschaft im Verstand zu befreien ist wie der Versuch, einen Vogel zu füttern, der im Dickicht fest hängt. Der Vogel wird sich erst befreien müssen. Der rationale, analytische Verstand muss sich also Zeit lassen für die Begegnung mit Gott.  Das ist ein Ringen, aber jeder, der sucht, wird finden. Und ich kann mir kaum einen besseren Weggenossen vorstellen als Bruder Lorenz und die Psalmen und Bibelworte, in denen er zuhause war.
„Wenn du tiefer in das geistliche Leben eindringen willst, wirst du die spitzfindigen Schlussfolgerungen des unbeholfenen Verstandes meiden müssen. Wir können jahrelang mühevoll argumentieren; doch voller und tiefer ist das Wissen um die verborgenen Dinge des Glaubens und um Ihn selbst, der als Licht in das Herz des Demütigen hineinstrahlt.“

Gefahr der Einseitigkeit
Wenn Kopf- und Herzwissen auseinander fallen, kann auch der umgekehrte Zustand eintreten, der nicht weniger verzerrt ist: Man misst Erfahrungen, insbesondere emotionalen, imaginativen und spirituellen, eine Bedeutung zu, die aus der Bibel nicht zu rechtfertigen ist. So wie sich die Romantik zu Bruder Lorenz‘ Zeiten in Abgrenzung zur Aufklärung dem reinen „Empfinden“ verschrieb und es in Kunst und Lebensgefühl feierte, wird in unseren Tagen in der Gemeinde – als Gegenbewegung zur verkopften Theologie – der charismatischen Erfahrung zuweilen ein ähnlich hoher Rang eingeräumt. Diese Bewegung nennt man erfahrungs- oder gabenorientiert. Das Phänomen ist im Grunde nichts neues, die frühe Gemeinde in Korinth musste sich damit bereits auseinandersetzen. Seit jeher birgt eine einseitig erfahrungsorientierte Frömmigkeit die Gefahr der Schwärmerei. Bruder Lorenz hat dies erkannt. Deshalb betonte er, wie wichtig es sei, die Gegenwart des Schenkenden, nicht das Geschenk zu suchen – ganz nach der Maxime „Du weißt, ich suche nicht deine Gaben, sondern dich selbst; mein Herz wird nicht eher ruhen, bis es Ruhe findet in dir.“ (Spiritual Maxims p.56) Es geht nicht darum, die Geschenke Gottes zurückzuweisen, sondern über sie hinweg auf den Schenkenden zu schauen. Dazu ermutigte Bruder Lorenz seine Zeitgenossen.

Sündenbekenntnis und Vergebung
Sünde trennt uns von der Gegenwart Gottes. In der Trennung von ihm wurde Kain zum ruhelosen Wanderer (1. Moses 4, 13-16). Die Sabbatruhe, von der Hebräer 4 spricht, ist die Gegenwart Gottes, in die niemand eintreten kann, es sei denn durch den Glauben, der uns Anteil gibt an dem Opfertod, der die Sünden bedeckt. Bruder Lorenz lehrte, dass der wichtigste „Weg, die Gegenwart Gottes zu erlangen, eine große Reinheit des Lebens“ sei. Er selbst fand vor allem durch das Sündenbekenntnis und das Empfangen der Vergebung in die Gegenwart Gottes zurück.
„Ich betrachte mich als den erbärmlichsten aller Menschen, von Schmerzen zerlumpt, übel riechend und jedes Verbrechens gegen seinen König schuldig. Berührt von einer heftigen Reue flehe ich um seine Vergebung und gebe mich selbst in seine Hand, dass er mit mir tue, was er will. Dieser König, voller Güte und Erbarmen, denkt nicht daran, mich zu peinigen, sondern umarmt mich liebevoll, führt mich an seinen Tisch, dient mir mit seinen Händen, gibt mir die Schlüssel zu seinen Schätzen und behandelt mich wie seinen Liebling. Er redet mit mir und findet unaufhörlich Gefallen an meiner Gesellschaft in tausendfältiger Weise. ... Je mehr ich meine Schwäche und meine Erbärmlichkeit erkenne, desto mehr sehe ich mich von Gott umsorgt. So denke ich zuweilen über mich in seiner heiligen Gegenwart.“
Dies ist kein kühles Verstandes-Credo, das sich der Rechtfertigung durch Gott vergewissern will, aber auch keine emotionale Verschmelzung mit der Gottheit. Es ist vielmehr ein Ausdruck von Liebe und von Vertrauen in  Gottes Güte, deren Licht in das Dunkel der schamvoll verdeckten Sünden hineinstrahlt.  Nur so können wir es wagen, in seine Gegenwart einzutreten und dort bestehen. In ihr zu verweilen, war für Bruder Lorenz „der große Schutz".

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© Siegfried Martin